Doch es war nicht die Größe des Hauses, die mir Angst bereitete. Immer mehr Menschen kamen mir auf meinem Weg zum Haupteingang entgegen. Natürlich, zehntausend Studenten oder mehr, sie mussten ja irgendwo sein. Aber ich hatte den Eindruck, genau in diesem Moment strömte die gesamte Studierendenschaft auf mich zu. Ein Schwitzen, ein Zittern und eine Beklommenheit in der Brust. Dabei war ich noch nicht einmal in der unmittelbaren Nähe dieser Bildungsstätte, die zu erreichen ich doch stolz war. Immerhin kam ich bislang nur als Schüler, also als Gast, hierher. Nun durfte ich selbst dort studieren. Das war eine große Ehre für mich und nach meinen bisherigen psychischen Leiden auch gar keine Selbstverständlichkeit.
Immer wieder blieb ich stehen, versuchte, tief durchzuatmen, auch wenn das bei Anzeichnen einer Hyperventilation schwer war. So richtig kann ich mich heute nicht mehr erinnern, wie ich schlussendlich doch bis ins Foyer der Uni kam, es ist ja mittlerweile auch schon weit über zehn Jahre her, dass dieses Erlebnis meinen weiteren Lebensweg wesentlich prägte. Es wurde immer voller. Und dieses Mal war es nicht nur meine Wahrnehmung, sondern eine Tatsache. Schließlich hatte die Vorlesung begonnen und alle mussten in ihre Räume. Ein unheimliches Durcheinander begann, alle drängten, alle rannten, alle hatten es eilig. Und ich flüchtete in eine Ecke, in der ich das Treiben mit Ruhe beobachten konnte. Doch ruhig war ich nicht, immer wieder war mir schwarz vor Augen, so kannte ich das gar nicht von mir.
Es war mittlerweile halb neun und die meisten Studenten hatten sich im Audimax oder in ihren Seminarräumen eingefunden. Ich wollte ja nur zur Anmeldung für das nächste Semester in das Studierendensekretariat. Doch jetzt erlebte ich plötzlich die Dimension dieses Hauses von innen. Überall nur Gänge, Ausschilderungen, die man wohl nur verstehen konnte, wenn man sich hier bereits einigermaßen auskannte. Viele hektische Professoren, in ihren Laptops vertiefte Studenten, die sich irgendwo ein Plätzchen in der Sitzecke gesucht hatten, Lebendigkeit in der Mensa und in der Bibliothek. Ich kam fast an jeder wichtigen Einrichtung vorbei, schaute meist nach unten, hoffte, dass niemand in mich hineinrennen würde. Ich wünschte mir ein Schutzschild, dass das alles an mir vorbeigehenlassen würde, doch diese Wahrheit, dass es eben anders war, musste ich nun aushalten.
Eigentlich hätte ich auch nach dem Weg fragen können. Aber jemanden ansprechen, damit hatte ich es noch nie. Ich hatte keinerlei Probleme, einen Vortrag zu halten. Ich konnte vorne stehen, wenn mir hunderte Menschen zuhörten. Hauptsache, sie saßen, es war still und ich konnte mich auf der Bühne alleine auf meine Aufgabe konzentrieren. Das bereitete mir keinerlei Sorgen, so war ich durch meine mündliche Abiturprüfung und die vielen Referate in der Oberstufe gekommen, die ich nach Aussagen meiner Lehrer mit Souveränität bewältigte, weil ich stets ausgeglichen wirkte. Jetzt konnte man das allerdings nicht behaupten. Immer noch irrte ich in dieser Universität umher und war mir aber sicher, meinem Ziel näher gekommen zu sein. Und tatsächlich stand ich plötzlich vor der Tür zu diesem Sekretariat, doch ich konnte sie nicht öffnen.
Ich war wie gelähmt, alles in mir wurde schwer, es brannte wahrlich in meinen Gliedmaßen. Und schnell zog ich die Hand von der Klinke zurück. Ein anderer Student stand hinter mir. Willst du auch ins Studi-Sekretariat?. Äh, äh, nein, äh, ich will, nein, äh, du kannst vor, stammelte ich zusammen. Völlig untypisch für mich, denn ich antwortete eigentlich immer problemlos, wenn ich gefragt werde. Anders war es umgekehrt. Nie hätte ich von mir aus in den Weiten der Konstanzer Hochschule jemanden angesprochen. Denn das wirkte doch so, als sei ich hilflos, fände mich nicht selbst zurecht, wäre ich präsenil. Und deshalb zog ich es jetzt auch vor, lieber wieder umzudrehen und zu versuchen, diese Einrichtung lebendig zu verlassen. Bei zitternden Knien, Schleier vor den Augen und einem tiefen Magengrummeln gar nicht so einfach.
Denn mit der Orientierung hatte ich es auch nicht so. Und dann das: Nachdem mittlerweile Zeit vergangen war, stürmten die ersten Studenten wieder aus ihren Zimmern, um in der Mensa etwas zu essen. Von Erzählungen wusste ich, dass sich lange Schlangen an den Eingängen bilden würden. So war es auch. In meiner Suche nach dem Ausgang kam ich mitten in eine solche hinein. Hey, hinten anstellen, fuhr mich ein etwa zwanzig Zentimeter größerer Noch-Nicht-Kommilitone an. Ich schreckte zurück, hatte hinten ja keine Augen und stieß gleich an den nächsten. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Der Schnellste war ich ja nie, selbst die Stoppuhr konnte nie glauben, dass man für einen 50-Meter-Lauf so lange brauchen kann wie ich. Doch jetzt, jetzt konnte ich rennen. Irgendwohin, wo es stiller war, keine Menschen, kein lautes Gerede, keine Enge und kein Duft von Spaghetti Bolognese.
Zu meiner Überraschung war der Ausgang plötzlich schon gegenüber. Wo ich eigentlich war, das blieb mir zeitweise völlig unerschlossen. Doch das war in diesem Moment eigentlich egal. Ich fühlte mich wie nach einem Marathonlauf, dabei wollte ich mich doch nur zum Studium an der Universität einschreiben! Wieder nahm ich meine Füße in die Hände und ergriff den nächsten Bus, den ich an der Haltestelle erwischen konnte. Einen Sitzplatz ergatternd, schweiften meine Gedanken nun zu diesem Schreiben der Hochschule, mit dem man mich zur Immatrikulation eingeladen hatte. Was wird nun daraus? Würde ich an einer Universität studieren, den Studienalltag aus Stress, Unrast, Unruhe und vielen Menschen, die ja doch nicht miteinander kommunizierten, in einem Gebäude, in dem man alleine völlig hilflos schien und in dem ich mir nicht zutraute, irgendeine Hilfe ausfindig zu machen, die mir den Einstieg erleichtern würde, aushalten können? Immerhin war ich ja nicht einmal sicher, ob ich die Uni jemals wieder betreten könnte.
Die Antwort fand sich schnell. Mithilfe der Unterstützung meiner Eltern war ich zwar eingeschrieben, erlebte aber in vier Wochen sieben Panikattacken in und um das Gebäude herum, teilweise unter ärztlicher Behandlung war nach einem Monat klar, dass ich unter diesen Umständen sprichwörtlich vor die Hunde gehen würde. Es war ein Gespräch mit meinem Psychiater fällig, mit dem ich rasch zu dem Schluss kam: In dieser Akutsituation konnte ich nicht studieren. Nun standen andere Aufgaben an, um meine Agoraphobie und meine soziale Phobie zu bekämpfen. Es war Weihnachten und mit einer Psychologiestudentin versuchte ich als Exposition, Händler auf dem hiesigen Weihnachtsmarkt unsinnige Sachen zu fragen. Und das gleichzeitig umgeben von hunderten Menschen, die jedes Jahr die Buden besuchten. Auch an die Uni trauten wir uns heran, aber da war das Ergebnis nur mäßig. Zwar konnte ich sie in vorlesungsfreien Zeiten besuchen, aber während des Semesters war es praktisch unmöglich, bei vollem Betrieb ohne einen Panikanfall durch die Massen zu kommen.
Und so entschied ich mich, einen alternativen Weg zu gehen. Nein, ich drückte mich nicht vor der Konfrontation mit meiner Furcht, aber es war nach der gemeinsamen Ansicht meines Therapeutens und mir auch nicht zielfördernd, krampfhaft darauf hinzuarbeiten, angstfrei den Studienalltag zu überleben. Viel eher wollten wir ein effektives Vorankommen in meinem Lebenslauf erreichen. Und dafür eignete sich die Fernuniversität in Hagen, wie mir mein Psychiater vorschlug. Zwar konnte ich auch dort mein Studium nicht beenden, weil mein Gedächtnis es unter einer neurologischen Erkrankung nicht zuließ. Aber immerhin hatte ich es geschafft, mehrere Semester erfolgreich hinter mich zu bringen. Nach dem Rückschlag, aufgrund der Angst nicht in eine Stadt ziehen und Theologie studieren zu können, und der Ernüchterung an der hiesigen Universität und der Aussicht, vielleicht nie etwas aus meinem Abiturszeugnis machen zu können, waren diese Abschlüsse von Teilabschnitten ein Höhepunkt für mich.
Mittlerweile habe ich mich exmatrikulieren lassen, weil ich es kognitiv nicht mehr geschafft habe, das wissenschaftliche Arbeiten. An der Uni hier war ich auch nur noch ein Mal. Einen Vortrag hielt ich. Spät abends, als nur noch die Zuhörer und ein Hausmeister auf dem Campus schienen. Das war dann kein Problem. Aber die Phobie habe ich trotzdem noch nicht voll im Griff. Dennoch: Mit manch so einem einfach gedachten Hinweis, sich manche Menschen vor Augen als die vorzustellen, die eigentlich der völlig selbe sind wie ich auch, nicht höher oder niedriger stehen und wahrscheinlich morgens auch das Klo aufsuchen müssen, das half mir schon sehr weiter. Mit Expos kam ich dagegen weniger voran. Aber mit einer Gelassenheit, dass Fehler eben zulässig sind. Dass ich mich verhaspeln darf, wenn ich mit jemandem spreche. Dass ich jemandem einen freundlichen Blick zurückwerfe, wenn er mich im Restaurant gefühlte Stunden beobachtet. Dass ich mich über seine überraschte Reaktion freue und wie er plötzlich selbst ganz verschämt den Kopf wegdreht. Oder dass ich kein Problem damit habe, wenn in diesem Text ein Tippfehler vorkommen mag. Denn jeder darf ihn behalten, der ihn findet.
Ja, auch eine Panikattacke inmitten der Uni gehört zu mir. Was soll mir geschehen? Will mir deshalb jemand eine reinhauen? Wir können unsere Befürchtungen kaum artikulieren, die wir haben, wenn wir mit Menschen in sozialen Kontakt treten. Pathologische Ängste sind in der Regel immer übertrieben, aber das können wir nicht erkennen, ansonsten wären wir ja auch nicht krank. Mit Respekt diese Erkenntnis anzunehmen, das war für mich schwierig, aber schlussendlich auch richtig hilfreich. Mich nicht unter Druck setzen und auch nicht setzen lassen. Denn selbst und gerade ich habe in manch ironischer Überheblichkeit das Recht, hier auf Erden zu sein, wie jeder Andere auch, der meint, aus seiner wahren Arroganz oder seinem überschießenden Selbstbewusstsein meine Lage ausnutzen zu müssen, in der ich eben nicht selbstsicher bin, sondern noch lerne, dass ich dazugehöre zu der Gemeinschaft aus allen auch wenn ich mich manchmal nicht so fühle. Mit etwas mehr Ruhe und Zufriedenheit mit mir und dem Gegenüber in diese Welt zu gehen, es klingt wie ein philosophischer Ratschlag, aber er war für mich wie ein Schlüssel zur Annahme einer Lebenssituation, die nicht so ist, wie ich mir das vorgestellt habe, jedoch keinesfalls taugt, um davor wegzutauchen
Dennis Riehle