Seelische Probleme in der Pandemie sind oftmals hausgemacht…
Die Selbsthilfeinitiative zu Zwangserkrankungen, Phobien und Depressionen im Landkreis Konstanz zieht Bilanz zum abgelaufenen 2021: Demnach seien laut Angaben des Gruppenleiters Dennis Riehle 70 Prozent mehr Anfragen von Ratsuchenden eingegangen als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum, wobei sich die Steigerung insbesondere in der zweiten Jahreshälfte ergeben habe und aufgrund der thematischen Inhalte der Hilfsgesuche von einer überwiegenden Zahl an Zusammenhängen mit Auswirkungen der Corona-Pandemie auszugehen sei. Insgesamt gesehen, seien etwa die Hälfte der eingegangenen Beratungsersuchen (85 % per Mail, 10 % per Telefon und 5 % über Post) von Angehörigen gestellt worden. Hierbei handelte es sich in der überwiegenden Mehrheit um Eltern von minderjährigen Kindern, die aufgrund der lang andauernden Phasen von Distance Learning zu rund zwei Drittel depressive Symptome, 20 % etwa Angststörungen und Zwangserkrankungen sowie restlich Persönlichkeits-, Verhaltens- und Impulskontrollstörungen aufgewiesen haben. Rund ein Viertel der weiteren Anliegen wurde von Verwandten vorgetragen, deren Nächsten bereits volljährig waren und Auffälligkeiten gezeigt haben, hier in der Überzahl depressive Symptomatiken. Die sonstigen 25 Prozent kamen von Betroffenen selbst, sagt Riehle.
In der Sache ging es bei etwa 40 Prozent der Anfragen um die Bitte, bei der Suche nach einem Therapieplatz zu unterstützen: In der Corona-Pandemie haben wir eine weitere massive Zuspitzung der fehlenden Kassensitze erlebt. Die Politik hat eine grundlegende Reform der Bedarfsplanung bis heute verschlafen und stets nur kleine Stellschrauben gedreht, anstatt sich an einen großen Wurf zu wagen. Das rächt sich nun. Allerdings wissen auch viele Betroffene nicht um ihr Recht auf eine Psychotherapie und welche Angebote und Ansprüche es gibt, über alternative Wege zu einer solchen zu gelangen, erklärt Riehle, der seit über 23 Jahren selbst psychisch erkrankt ist und als Psychosozialer Berater qualifiziert und im Sozialrecht zertifiziert wurde. Zwanzig Prozent der eingegangenen Gesuche drehten sich um die Frage, wie eine Diagnose zustande kommen kann, welche Anzeichen für eine psychische Erkrankung sprechen und wie man als Angehöriger reagieren kann, wenn man Wesensveränderungen bei einem nahestehenden Menschen erkennt. Weitere 15 Prozent erkundigten sich nach den unterschiedlichen zugelassenen Therapieverfahren und medikamentösen Ansätzen der Behandlung und die restlichen 25 Prozent erbaten konkrete psychologische und seelsorgerliche Beratung und hatten Fragen zu Ansprüchen auf Schwerbehinderung, Erwerbsminderungsrente und Pflegeleistungen.
Riehle stellt fest: Viele der Probleme sind hausgemacht, weil wir es verlernt haben, uns für schlechte Zeiten eine psychische Resilienz aufzubauen. Wir wissen heute nicht mehr, wie wir uns beschäftigen und ablenken können, wenn einmal soziale Kontakte eingeschränkt sind oder Phasen von Quarantäne und Lockdown herrschen. Seelische Widerstandskraft zu erlangen, scheint heute vielen Menschen nicht notwendig, weil sie trügerisch glauben, dass sie von mentalen Schwierigkeiten nicht heimgesucht werden. Dabei gebe es viele Möglichkeiten zum Training für psychische Stabilität. Wir sind heute träger denn je, was die Anpassung an neue und ungewohnte Situationen angeht. Gleichzeitig können wir kaum noch eine Minute entspannen, stattdessen muss dauernd Aktion herrschen. Und: Verzicht zu üben, das ist aktuell für viele eine Anmaßung, weil wir unserer Überflussgesellschaft gewohnt sind, grenzenlose Freiheiten ausüben zu können, während wir Demut und Rücksichtnahme zu unnötigen Tugenden erklärt haben, befindet der 36-Jährige, und ergänzt zudem: Wir müssen im sogenannten Betrieblichen Gesundheitsmanagement, an Volkshochschulen und auf niederschwelligen Wegen vermehrt Angebote unterbreiten, die sich mit der seelischen Fitness von Menschen auseinandersetzen. Dazu gehört auch ein kritisches Hinterfragen von eigenen Glaubenssätzen, denn nicht wenige von uns haben den Kompass für ein sinnerfülltes Leben aufgegeben, weil sie Achtsamkeit verpassen, sich oberflächliche Ziele setzen und in einer Ellenbogengesellschaft und digitalisierten Welt tatsächliche Freundschaften und tiefgehende Verbindungen mit Anderen verloren haben.
Für das neue 2022 erkennt Riehle: Die Welle auf dem Meer der seelischen Gesundheit unserer Bevölkerung befindet sich noch weit draußen. Ich erwarte jedoch, dass sie spätestens in der zweiten Jahreshälfte den Hafen erreichen wird und uns dann mit voller Wucht treffen wird. Deshalb rät der erfahrene Gruppenleiter dazu, für die eigene Psychohygiene zu sorgen und sich entsprechend zu wappnen: Nutzen wir die Auszeiten, die uns durch Covid-19 verordnet werden, doch einmal dazu, uns ganz individuelle Wege zu suchen, statt auf Partys und Discos nur eine schnelllebige Befriedigung unseres Spaßantriebs zu praktizieren, perspektivische und vor allem von Anderen unabhängige Freizeitgestaltung und Bestätigung zu suchen. Unser Selbstbewusstsein von heute ist nur auf den ersten Blick gewachsen. Tatsächlich aber bricht gerade in vielen Seelen das Gerüst der Eigenverantwortlichkeit zusammen, weil wir nur noch nach glitzerndem Ruhm und zweifelhafter Ehre Ausschau halten, statt auf echte Anerkennung durch das eigene Ich zu setzen. Daneben sollten wir überlegen, ob statt 100 Kontakten im Messenger-Dienst vielleicht fünf tatsächliche Beziehungen zu wichtigen Menschen nachhaltiger sind, so Riehle abschließend.