Es ist wohl eine der häufigsten Fragen, die mich in meiner täglichen Selbsthilfearbeit erreicht: Können Psychopharmaka tatsächlich zu diesen schwerwiegenden Nebenwirkungen führen, von denen man immer wieder hört? Oftmals muss ich schmunzeln, wenn ich diese Sorge von Betroffenen vernehme – gleichsam aber auch ein Kopfschütteln meinerseits. Denn ich bin durchaus beeindruckt, dass Ängste, die in den 1980er- und 1990er-Jahren durchaus berechtigt waren, bis heute überlebt haben.
Denn ja, damals war die Einnahme von Antidepressiva durchaus mit massiven Begleiterscheinungen verbunden. Und das Gerücht, wonach sie abhängig machen und zu dauerhaften Körperschäden führen können, hält sich auch in den 20er-Jahren des 21. Jahrhunderts beständig. Obwohl die ersten Generationen der Medikamente kaum noch im Einsatz sind und seit langem überholt scheinen, sind es gerade solche Arzneimittel aus den Anfängen der psychopharmakologischen Behandlung, die auch jetzt noch zu Verunsicherung beitragen und viele Bedenken oder gar Ablehnung bei den Menschen schüren.
Dabei haben die Präparate der neuesten Zeit sie längst verdrängt und sind heute zu anerkannten Behandlungsoptionen bei Zwängen, Phobien, Depressionen und anderen psychosomatischen wie psychiatrischen Krankheitsbildern geworden. Gerade der Umstand, dass die aktuell verwendeten, sogenannten „Selektiven Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer“ (SSRI/SNRI) nicht auf das Zentrale Nervensystem direkt einwirken und auch – entgegen vieler falscher Vermutungen – keine Hormone darstellen, die der Patient zu sich nimmt, müsste eigentlich Panikgefühle vor der medikamentösen Therapie relativieren. Denn es handelt sich bei diesen Psychopharmaka „lediglich“ um Botenstoffe für das Gehirn, welche dabei helfen, die vom Körper ausgeschütteten „Glücksbringer“ länger im Synaptischen Spalt der Nervenzellen verharren zu lassen und damit ihre Wirkung auszudehnen. Es ist also keinerlei Eingriff in die tatsächlichen Stoffwechselabläufe zu befürchten, sondern allein ein Verstärken der ohnehin vorhandenen biochemischen Informationsübertragungen im Kopf.
Oftmals werden in aller Pauschalisierung solche Antidepressiva mit anderen Psychopharmaka und Neuroleptika verwechselt und in einen gemeinsamen Topf geworfen. Dabei verbietet sich jedwede Generalisierung in dieser Hinsicht schon deshalb, weil die Wirkweise eine völlig unterschiedliche ist und keine Vergleichbarkeit besteht. Oftmals werde ich gefragt, ob man von „diesen“ Medikamenten nicht süchtig wird. Ich selbst nehme SSRI/SNRI nun seit knapp 20 Jahren mit einigen Unterbrechungen, in denen sich bei ordnungsgemäßem „Ausschleichen“ der Präparate zu keinem Zeitpunkt Absetzsymptome zeigten oder ich gar ein Verlangen nach dem Wiederansetzen verspürte – denn: Antidepressiva bergen kein Abhängigkeitspotenzial in sich, sondern sind nach möglichen, anfänglichen Nebenwirkungen wie Zittern, Magen-Darm-Beschwerden, Mundtrockenheit, Schwitzen, Schlafstörungen, Sehstörungen, Herzstolpern oder Muskelschmerzen ein in aller Regel gut verträgliches Mittel zur Behandlung von psychischen Erkrankungen, die in Kombination mit einer psychotherapeutischen Versorgung ein Gesamtkonzept zur Verringerung der Symptomatik darstellen. Sie stehen in keinem Zusammenhang zu Benzodiazepinen und Tranquilizern, also Beruhigungsmitteln mit eindeutiger Suchtgefahr, welche deutlich in das Nervensystem eingreifen und deshalb zwar eine schnelle Linderung von Unrast mit sich bringen, aber rasch zur Unverzichtbarkeit führen.
Solche „Anxiolytika“ oder „Hypnotika“ sind ähnlich wie Schlafmittel der „Z-Generation“ für den kurzfristigen, über wenige Tage oder Wochen andauernden Gebrauch gedacht, um in akuten Problemsituationen eine Minderung des Anspannungsniveaus erreichen zu können. Gleichsam sind die heute kaum noch eingesetzten „MAO“-Hemmer als eine Unterklasse der Antidepressiva mit erheblichen Nebenwirkungen besetzt, weil sie auf Enzym-Ebene wirken und sich durch starke Wechselbeziehungen mit anderen Arzneimitteln überdauert haben. Auch die trizyklischen Antidepressiva kommen heute zumeist kaum noch zum Einsatz. Wenngleich ihre unerwünschten Wirkungen überschaubar sind und ihre chemische Ringstruktur schon große Ähnlichkeiten zu den Präparaten aufweist, die heute als SSRI/SNRI auf die Neurorezeptoren einfließen, dienen sie dieser Tage vor allem der schmerzlindernden Begleittherapie und kommen höchstens noch als ergänzende Medikation bei Panik-, Zwangs- und Angsterkrankungen, selten gleichsam als Monotherapie bei verschiedenen Formen der Depression in Betracht – und spielen daher eine nachgeordnete Rolle.
Neuroleptika als klassisches Mittel zur Behandlung der Erkrankungen aus dem psychotischen Umfeld sind zwar weiterhin unverzichtbar bei schizophrenen und wahnhaften Störungen. Bei neurotischen Krankheitsbildern kommen sie lediglich dann ins Blickfeld, wenn Gedanken und Handlungen der Betroffenen dazu neigen, paranoide Züge anzunehmen. Auch bei depressiven Episoden mit einer Tendenz zu Wirklichkeitsverzerrungen kann unter hohem Leidensdruck ein Antipsychotikum sinnvoll sein, zumal manche von ihnen als Begleitwirkung auch positiven Einfluss auf die affektive Schwingungsfähigkeit haben. Gerade die Neuroleptika der neueren Generation, die atypischen Varianten, sind in ihrer Verträglichkeit deutlich gestiegen und weisen wie die „niedrigpotenten“ und „mittelpotenten“ mit mäßig antipsychotischer, abschirmender und sedierender Wirkung vergleichsweise zu erduldende Nebenwirkungen auf. Gleichsam sollte der Einsatz aller Antipsychotika regelmäßig auf seine Notwendigkeit überprüft werden, da mögliche Langzeitfolgen im Bewegungsapparat nicht vollends auszuschließen sind und ohnehin jedes Medikament stets reflektiert werden muss. Es sollte nicht allein zum Selbstzweck dienen, sondern der Besserung von Symptomen.
Als „positiven“ Beifang kann man auch bei den Antikonvulsiva (Medikamente zur Behandlung der Epilepsie) entsprechende antidepressive Wirkungen erkennen. Gleichsam sind sie nicht für die vorrangige Behandlung der psychischen Krankheiten gedacht, können aber ähnlich wie manches Parkinsonmittel ergänzend einen guten Einfluss auf die seelische Verfassung haben. Somit ist die Auswahl an Arzneimitteln, welche zur kombinierten Therapie von psychiatrischen Störungsbildern genutzt werden können, recht weitreichend und heutzutage bei Einhaltung einiger Spielregeln mit wenigen unerwünschten Effekten verbunden – insbesondere im Bereich der Antidepressiva, von denen die meisten mittlerweile auch für neurotische Probleme wie Zwangserkrankungen, Angst- und Panikstörungen, Verhaltensstörungen, Persönlichkeitserkrankungen, dissoziative Störungen oder Anpassungserkrankungen zugelassen sind und zu vielversprechenden Ergebnissen führen.
Ich würde all das nicht sagen, wäre ich nicht selbst Betroffener und hätte ich nicht die meisten der genannten Medikamente auch schon einmal eingenommen. Meine Befürchtungen waren anfangs ebenso groß wie jene vieler Patienten, die auch heute noch zweifeln, ob eine Arzneimitteltherapie für sie in Frage kommt. Wer Antidepressiva sorgfältig einschleicht, anfängliche Nebenwirkungen über maximal wenige Wochen aushält und den Eintritt des Wirkungsspiegels abwarten kann, hat gute Aussichten, von Medikamenten als zusätzliches Angebot zur Behandlung stark profitieren zu können. Ich wäre heute nicht so psychisch stabil, diesen Artikel zu verfassen, hätte ich auf die psychiatrische Intervention mit Psychopharmaka vorschnell verzichtet. Das soll kein Appell und keine Überredung sein, sondern eine Ermutigung, sich eigens und umfassend mit dem Thema zu befassen, anstatt auf das Gesagte der letzten Jahrzehnte zu vertrauen, was dieser Tage nicht mehr haltbar und hinfällig ist.
Hinweis: Dieser Artikel ersetzt keine medizinische, therapeutische oder heilkundliche Konsultation!
Autor: Dennis Riehle, E-Mail: DR@bbud.info