Depression vs. Zwangserkrankung

Über eine Million Menschen in Deutschland sind an einer Zwangsstörung erkrankt. Sie leiden unter immer wiederkehrenden Zwangshandlungen (Rituale, die stereotyp immer gleich ablaufen) und/oder Zwangsgedanken (Sorgen und Angstimpulse, die ständig um ähnliche Themen kreisen und dabei in ihren Inhalten zumeist vollkommen unwirklich erscheinen, was den Betroffenen in der Akutsituation jedoch kaum bewusst wird), die Habitation und Denkmuster dauerhaft prägen und durch ihre Eintönigkeit, aber auch durch die Besorgnis erregende Wirkung den Lebensalltag erheblich einschränken. Zwar bemüht sich der Patient, gegen den Kreislauf aus ewigen Wiederholungen zu entfliehen, gleichzeitig gerät er durch diese Neutralisierungsversuche (Rückversicherungsverhalten) in einen noch tieferen Strudel seiner Erkrankung.
Typische Zwangshandlungen sind:

* Reinigungszwänge (wie Händewaschen, Duschen, Putzen) * (An-)Ordnungs-, Sortierzwänge * Kontroll-, Wiederhol- und Zählzwänge (z.B.: Ist die Tür auch wirklich abgeschlossen? Habe ich die Kaffeemaschine tatsächlich ausgeschaltet?)
* Sammelzwänge
u.a.

Die Befürchtungen, die den Zwangshandlungen vorausgehen (u.a. Furcht vor Verschmutzung, Verkeimung, Krankheiten, Einbruch, Kurzschluss, magische Erfüllungen), provozieren eine dauerhafte Anspannung, die wiederum in einen Aktionismus mündet, um gegen die Besorgnis anzugehen. Der Betroffene agiert mit seinem Verhalten vorbeugend und absichernd – oder kontrollierend, nachprüfend und reaktionär. Im Unterschied können Zwangsgedanken entweder als in sich geschlossene und stets kreislaufartige Befürchtungen auftreten, die sich in der Regel um ein übertriebenes Schuldbewusstsein oder eine übersteigerte Verletzlichkeit drehen – und als vollständig realitätsfern zu bewerten sind. Der Zwangserkrankte ist zwar in der Lage, während und besonders nach der zwanghaften Situation die Unsinnigkeit seines Denkens zu erkennen – gleichzeitig bleibt eine Distanzierung oder ein Loslösen von den Sorgen aber aus. Zwangsgedanken werden in unterschiedliche Kategorien einsortiert: Sie können aggressiv (z.B. die immer wieder auftauchende Befürchtung, das eigene Kind verletzen zu können), sexuell (u.a. die stetige Angst, sich beim Sexualverkehr mit übertragbaren Krankheiten infizieren zu können oder bereits angesteckt zu haben) und religiös (beispielsweise die Besorgnis eines zornigen Gottes, der den Betroffenen ununterbrochen beobachtend und bestrafend begleitet) sein. Zwangsgedanken können gleichzeitig auch der Auslöser von Zwangshandlungen sein, die über diese Ritualhaftigkeit zu entkräftet versucht werden. Sie stehen also bei in enger Verwobenheit zueinander.

Vom bloßen Erscheinungsbild der Symptome kann auf den ersten Blick eine große Ähnlichkeit zwischen depressiven Episoden und Zwangsgedanken vermutet werden, da sich beide in Form von häufig auftauchendem Grübeln auszeichnen. So kann durchaus angenommen werden, dass häufig zunächst eine Verwechslung beider Krankheitsbilder möglich ist. Unterschiede können jedoch deutlich abgegrenzt werden: Während das depressive Nachsinnen meist auf aktuelle und tatsächliche Lebensumstände zurückgeführt werden kann ist und sehr oft existenzielle Fragen umkreist, sind Zwangsgedanken ohne Zusammenhang mit der Wirklichkeit zu sehen. Ihr abwegiger Charakter differenziert sie doch ebenso recht deutlich wie die stringente Monotonie ihrer Inhalte, die sich gerade bei einer Chronifizierung teils über Jahre hinweg festsetzt. Betroffenen einer Zwangsstörung ist die Absurdität ihres Tuns und Denkens außerdem meist außerhalb der erlebten Phasen bewusst. Während sich der Patient depressivem Grübeln eher hilflos ausgesetzt fühlt und den Umstand deshalb häufig widerstandslos hinnimmt, bemüht sich der Zwangserkrankte in der Regel intensiv darum, sich von seinen Gedanken abzugrenzen. Er greift dabei nicht selten zu reaktivem Verhalten in Gestalt diverser Zwangshandlungen. Sowohl Depressions- als auch Zwangserkrankte sind durch ihre Einschränkungen enorm belastet: Die Lebensqualität ist durch Zeitverlust und Leidensdruck stark in Mitleidenschaft genommen. Überdies sind Zwangserkrankte und Betroffene von zwanghaften Persönlichkeitsstilen durch einen ritualhaften, übermäßig perfektionistischen sowie systemliebenden Ordnungssinn geplagt.

Depression und Zwänge haben oftmals gegenseitige Wechselwirkung. Ihre Komorbidität, die jeweilig anderseitige Beeinflussung der Symptome, kann rasch zu einem Mix an Beschwerden führen, in welchem nur noch schwer zu trennen ist: Betroffene starker Zwänge reagieren häufig mit Scham und empfinden die Behinderungen im Alltag als niederschmetternd. Gleichermaßen tritt Erschöpfung, aber auch Rastlosigkeit, Unruhe sowie Antriebslosigkeit aus der Perspektivlosigkeit des „Hamsterrades“, der immer monotonen Abläufe auf. Weniger steht die Sinnfrage im Vordergrund oder eine Hinterfragung der eigenen Persönlichkeit, Wertlosigkeit und Orientierungslosigkeit, wie es die depressiven Phasen an sich haben. Isolation, Verlust des Arbeitsplatzes und Spannungen in zwischenmenschlichen Beziehungen treten als psychosoziale Folgen gleichermaßen auf – ein Gefühl von Hilflosigkeit entsteht bei Betroffenen von Zwängen oder Depressionen in ähnlicher Weise, aber aufgrund unterschiedlicher Ursachen. Dass kausal sowohl für depressive Verstimmungen als auch zwanghafte Momente Situationen besonderer Belastung und Überforderung Symptom verstärkend wirken, bringt die Krankheitsbilder ebenso in eine gemeinsame Verpflichtung. Das heißt letztlich auch, es kann zu einem sogenannten „Teufelskreis“ kommen: Wenn die Zwangsstörung Phasen deutlicher Depressionen mit sich bringt, beeinflussen diese wiederum die Anfälligkeit für eine Zunahme Zwangshandlungen und –gedanken (zumeist auch umgekehrt). Rund drei Viertel der Patienten einer Zwangserkrankung weisen folglich im Laufe des Störungsbildes mindestens eine ernst zu nehmende depressive Episode auf.

In der Behandlung werden bei Zwangserkrankungen bestimmte Psychopharmaka aus der Gruppe der „Selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmer“ eingesetzt. Diese finden – wenngleich häufig in geringerer Dosierung – auch bei Depressionen ihren Einsatz. Gleichsam ist das Spektrum medikamentöser Behandlung bei depressiven Erkrankungen breiter als bei der Zwangsstörung. In der Regel liegen beiden Problembildern aber ähnliche Defizite in der Verwertung von Neurotransmittern im Gehirn zugrunde. Die Zwangsstörung bedarf jedoch aufgrund ihrer Komplexität fast immer einem spezifischeren Einsatz der Arzneimittel. Ebenso gilt auch, dass die angewandte Psychotherapie unterschiedlich ansetzen muss: Eine Behandlung, die sich allein auf Depression bezieht, würde höchstwahrscheinlich bei Zwängen nahezu wirkungslos bleiben. Zwangsstörungen brauchen im Rahmen einer Expositionstherapie die Konfrontation mit den eigenen Befürchtungen. Sie ist darauf ausgerichtet, den erlernten Handlungsmustern und Denkabläufen wieder rationale Sichtweisen gegenüber zu stellen. Die bei Zwängen entstehende Angstkurve muss in der Therapie nach und nach durchgestanden werden, ohne der Anspannung nachzugeben. Dem Zwangsimpuls zu widerstehen und die Erfahrung, dass sich Nervosität und Druck ohne Neutralisationsverhalten von alleine zurückentwickeln, ist der Lernprozess, der neben Ursachenbearbeitung und Erkenntnisgewinn im Bezug auf unterstützende Stabilitätsfaktoren des Zwangs im Mittelpunkt der Therapie stehen dürfte, angestoßen werden soll. Dagegen bleibt die Psychotherapie bei depressiven Erkrankungen wesentlich auf Gespräche ausgerichtet, die insbesondere der Klärung von Auslösemomenten dient und in praktischen Übungen auf die Rückführung zu den alltäglichen Aufgaben und sozialen Strukturen hinarbeitet. Dabei ist wesentlich, eine neue Ziel- beziehungsweise Sinnsetzung zu berücksichtigen.

Betrachtet man letztlich noch mögliche Gründe für die beiden Erkrankungen, kann man auch dort abseits der wechselseitigen Beeinflussung beider Erkrankungen noch weitere Gemeinsamkeiten erkennen: Eine Auslenkung des Botenstofftransfers in bestimmten Hirnarealen kann sowohl bei Depressionen als auch bei Zwängen ein beteiligter Faktor sein, ebenso wie Ereignisse im biografischen Ablauf (überproportional strenge oder nachlässige Erziehung, Überbehütung, mangelndes Selbstvertrauen, Mobbing, soziale Ausgrenzung im Heranwachsen, traumatische Begebenheiten, Stress- und Belastungssituationen…) und schlussendlich genetische Komponenten.

Lektüre:
Hoffmann, N.: Expositionen bei Ängsten und Zwängen. 2008: Psychologie Verlagsunion
Fricke, S.: Zwangsstörungen verstehen und bewältigen. 2007: Balance Buch + Medien

Links:
Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e.V., www.zwaenge.de <www.zwaenge.de>

Erstversion: Deutsche DepressionsLiga e.V.
Vollständige Überarbeitung: Dennis Riehle