Wenn plötzlich eine Körperhälfte zu fehlen scheint.

Können Sie sich vorstellen, ein Körperteil nicht mehr zu spüren? Wie es ist, wenn das Empfinden für eine Körperhälfte fehlt? Und das völlig spontan, ohne Vorankündigung, ohne Anzeichen und Beweggründe? Für mich waren das Erzählungen von Menschen, die eine Gliedmaße verloren hatten. Aber plötzlich erging es mir selbst so. Eines Morgens erwachte ich und stellte erschrocken fest: In der linken Körperhälfte fehlte mir nicht nur Gefühl, sondern auch meine Motorik war eingeschränkt. Ich konnte die Faust nicht komplett schließen, das Bein nur bedingt anheben. Schnell sah für mich Vieles wie ein Schlaganfall aus. Und so wurde ich auch zunächst auf diesen Verdacht untersucht und therapiert. Doch in den bildgebenden Aufnahmen war nichts zu erkennen, was die Lähmung ausreichend hätte beschreiben können. Eine kleine Blutung zwar, aber nicht derart dramatisch, als dass gleich dieses Ausmaß an Einschränkung daraus hätte abgeleitet werden können. Dabei waren die Symptome eigentlich recht eindeutig. Man vermutete zunächst eine „Transitorische Ischämische Attacke“, als einen „kleinen Schlaganfall“, dessen Auswirkungen sich innerhalb von 24 Stunden zurückbilden würden.

Doch dem war nicht so. Im Gegenteil: Die Schwäche, das fehlende Empfinden und die eingeschränkte Bewegungsfähigkeit des linken Beines zwangen mich zur Inanspruchnahme eines Gehstockes – und ich empfand mich wahrlich als jemanden, dem eine Körperhälfte nur noch in einem begrenzten Umfange zur Verfügung stand. Eine „funktionelle“ Genese wurde anschließend unter den Medizinern gemunkelt, eine „dissoziative Störung“, also eine Kategorisierung aus der Psychosomatik, aus dem Bereich, den die Ärzte als den ansehen, mit welchem zwar erkennbare Symptome, aber keine körperliche Grundlage umfasst werden kann. Nein, eine Simulation ist es nicht, man „bildet sich“ solche Phänomene auch nicht ein. Viel eher antwortet der Organismus mit physischen Gebrechen auf seelische Konflikte, die unterbewusst hervorbrechen, oftmals ganz plötzlich, akut oder mit einem chronischen Verlauf.

„Dissoziation“ als Abspaltung, als Abtrennung, was in diesem Fall durch Arm und Bein beschrieben war. Ich nahm sie nicht mehr wahr, stellvertretend, als ein Ausdruck der Psyche, dass ich mich von einem Erlebnis, einer Konstitution, einer Lebensphase trennen möchte oder mit ihr nicht länger in Kontakt sein will, sie ablehne oder sie nicht wahrhaben möchte. Meine depressive Stimmungslage gab einen Anhalt für eine mögliche Ursache: Lebensinhalt hatte mir nach schwerer Vorerkrankung gefehlt, der Sinn, wenn ich nichts mehr leisten könnte, zu nichts mehr zu gebrauchen sei. Die Vorstellung, als nutzloses Wesen zu existieren und eher dahin zu vegetieren, als das Leben genießen zu können, war durchaus in meinen Tiefen eingebrannt. Und sie hatte die Dimension, auch eine „dissoziative Störung“ auszulösen.

Sie nahm die Funktion ein, ein psychisches Geschehen abzubilden. Nicht selten bleiben die ursprünglichen inneren Konflikte gleichsam unentdeckt, auch ich konnte noch keine Remission meiner Hemiparese erfahren. Trotzdem arbeite ich weiter an den denkbaren Auslösern für meine körperlichen Symptome, die sich mittlerweile auch im Magen-Darm-Trakt, in Schmerzen oder im Sehen äußern. Wichtig für Menschen in dieser Situation bleibt ein Arzt, der trotz unklarer körperlicher Symptome das Vertrauen in seinen Patienten nicht verliert und ihn stützt, wenn es darum geht, physische Gebrechen als Repräsentanten des psychischen Zustandes der Person zu interpretieren und anzunehmen. Denn sie sind nicht weniger dramatisch und können zu gleichsam neurologischen, orthopädischen oder internistischen Folgen führen. Meine Muskelmasse linksseitig wurde geringer – obwohl ich ja eigentlich eine Lähmung hatte, die es gemäß der Radiologen gar nicht geben dürfte. Auch dieser Umstand macht deutlich, wie glaubwürdig psychosomatische Schilderungen von Patienten sein können – und wie wenig leichtfertig man sie abtun darf.

Die Behandlung erfolgt entsprechend behutsam und respektvoll, nicht zurückweisend oder auf die leichte Schulter nehmend. Medikamentös kann zwar die psychische Ursache unterstützend therapiert werden, gleichsam ist eine Psychotherapie unumgänglich, um langfristig eine Manifestierung der psychosomatischen Symptomatik zu verhindern. Niederschwellige Angebote sind gerade bei der Gruppe dieser Krankheitsbilder umso wichtiger, erfahren die Betroffenen doch nicht selten Ablehnung für ihre Beschwerden – auch durch Fachpersonal. Gerade daher bedarf es eines Rahmens, in dem sie sich öffnen können und entsprechende Aufnahme erfahren. Körpertherapie, aber auch Gestalttherapie, Kunst- und Musiktherapie sind ebenso wie fürsorgliche Sporttherapien, Ergo- und Physiotherapie neben Rehabilitationen in Einrichtungen, die auf die Bandbreite der Psychosomatik ausgerichtet sind, eine wesentliche Ergänzung im Konzept der Behandlung. Auch ich erfuhr diese wertvollen Maßnahmen als erleichternd, sah man mich dort doch als Patienten und nicht als jemanden, der seine Probleme nur vorgibt. Insofern kann die Ermutigung nur heißen, sich zu trauen, zu seinen somatisch zunächst nicht erklärlichen Symptomen zu stehen, bei Selbsthilfe, Hausarzt oder Psychotherapeut einen Erstkontakt herzustellen und sich für eine Behandlung zu öffnen, die im Zweifel auch tief in die Seele eindringt…

Dennis Riehle